Die Tränen des Freisinns – Werkstattbericht
«Ein Buch über den Freisinn? Bonne chance, meine Herren.»
Kaum jemand tarnt seine Skepsis so charmant wie Pascal Couchepin. Der freisinnige alt Bundesrat aus Martigny im Wallis setzte sich dann doch hin und begann zu erzählen. Und je länger er redete, desto weiter rückte unsere Präsenz in den Hinter- und das eigentliche Thema in den Vordergrund. Couchepin redete sich ins Feuer. Schimpfte über die Intellektuellenfeindlichkeit in seiner Partei; über falsche Entscheidungen, die nur der SVP geholfen hätten und über verquere Vorstellungen der Beziehung zwischen Wirtschaft und Politik. «Filz, Filz! Wer war denn tatsächlich von der FDP dabei?», rief er uns entgegen, als wir über die unglückliche Rolle der Partei beim Grounding der Swissair sprachen.
So wie mit Couchepin erging es uns häufig in den vergangenen zwei Jahren. Bei vielen Gesprächspartnern war zuerst eine gewisse Zurückhaltung zu spüren, eine gewisse Furcht auch. Genährt von jahrelanger Untergangsprosa in den hiesigen Medien. Hatten wir die Protagonisten aber erst einmal überredet, dann war die Zurückhaltung rasch abgelegt. Ja, seit drei Jahrzehnten geht es der Partei schlecht. Und ja, schon lange schreiben die Journalisten in der Schweiz vom Niedergang der FDP. Aber die eine grosse Geschichte des Wandels der Partei und ihres Staates, die wurde noch nicht erzählt.
Die Geschichte von der Entfremdung der Partei von der Wirtschaft, die Rolle des Freisinns beim Aufstieg der SVP, die Geschichte von der lavierenden Haltung in der entscheidenden Frage nach Europa.
Eine unbewältigte Geschichte
Wie unbewältigt «Der Fall FDP» noch immer ist, konnten wir in unseren Gesprächen mit den Protagonisten oft beobachten. Man hätte den Blick von Vreni Spoerry auf Video einfrieren sollen, als wir ihr erzählten, dass wir für unser Buch auch mit Christoph Blocher reden würde – was für ein Giftblitz! Als es später um die Swissair ging, um die Zeit nach dem Grounding, da wurden ihre Augen feucht.
Man staunt, wie nahe altgediente Politikerinnen und Politiker den Tränen sind, wenn es um ihre Partei geht. Verletzter Stolz, verratene Gefühle, verlorene Grösse: Der Freisinn war in der Schweiz mehr als eine Partei – die emotionalen Ausbrüche von Leuten wie Eric Honegger, Konrad Hummler oder Rolf Schweiger zeugen davon.
Das Land verloren
Es ist ja auch eine verrückte Geschichte: Die Schweiz, das war einmal die FDP. Dominierend in Verwaltung, Politik und Wirtschaft, gestaltete der Freisinn ein Land nach seinem Gusto. Dieses Land hat die FDP verloren – daran ändern auch die aktuellen Aufwärtstendenzen im Baselbiet oder in Luzern nichts. Die grosse Zeit des Freisinns ist für immer vorbei. Wir konnten in unseren Gesprächen mit vielen ehemaligen und aktiven Exponenten der Partei, mit Freunden und Feinden, noch einmal daran Anteil haben.
Die Folgen der Machtablösung im bürgerlichen Lager sind noch immer unverarbeitet. Das zeigen Reaktionen wie jene im Winter 2014, als in der NZZ ein Kampf um die politische Ausrichtung der Traditionszeitung tobte. Und das zeigen die Reaktionen, die das Gerede vom «bürgerlichen Schulterschluss» in diesem Wahlfrühling hervorruft. Wer sind die wahren Bürgerlichen? Wer definiert, was liberal ist, was schweizerisch? Das sind Fragen, die weit über den Kreis der Direktbeteiligten hinaus von grossem Interesse sind.
Nichts scheint klein, wenn es um die grosse alte freisinnige Partei geht. Kein Wunder, war Pascal Couchepin etwas skeptisch.