Vreni Spoerry: «Ich wurde jeweils fast angespuckt, wenn ich ein Restaurant betrat»

Sie ist die grosse alte Dame des Zürcher Wirtschaftsfreisinns: Als National- und Ständerätin prägte Vreni Spoerry (Jg. 1938) während mehr als zwanzig Jahren die Schweizer Politik. Sie sass in den Verwaltungsräten der wichtigsten Schweizer Unternehmen – auch der Swissair. Ein Gespräch über die freisinnige Ursünde und die Nähe von Wirtschaft und Politik.

 

Wenn man heute über Sie spricht, heisst es oft, Sie seien «Freisinn alter Schule». Was verstehen Sie selbst darunter?

Vreni Spoerry: Ich empfinde mich als Vertreterin des Zürcher Freisinns in seiner Blütezeit. Als ich in den Kantonsrat kam, waren wir die grösste Fraktion. Im Nationalrat stellten wir über fünfzig Leute und wir hatten neun, neun! Freisinnige aus Zürich. Ich fühle mich den Werten und Haltungen, die die FDP Zürich zu meiner Zeit hatte, nach wie vor verbunden.

War der «Freisinn alter Schule» also deckungsgleich mit dem Zürcher Wirtschaftsfreisinn?

Die FDP als Ganzes hat stets zentrale Anliegen der Wirtschaft vertreten. Aufgrund seines numerischen Gewichts im Parlament ist es sicher so gewesen, dass der Zürcher und der Waadtländer Freisinn innerhalb der Fraktion eine dominante Rolle hatten. In meinen Anfangszeiten gab es keine Diskussion darüber, dass einer der beiden FDP-Bundesräte aus der Waadt und der andere aus Zürich zu kommen hat. Das war so.

Sie haben von den Werten und Haltungen geredet. Wie würden Sie diese beschreiben?

Sie haben angekündigt, mit mir auch über den Slogan «Mehr Freiheit – weniger Staat» reden zu wollen. Das ist ein guter Punkt, weil der Slogan so verkürzt ist. Richtig hat er geheissen: «Mehr Freiheit und Verantwortung, weniger Staat». Verantwortung hat der Zürcher Freisinn – und damit der ganze Freisinn – immer sehr ernst genommen. Das schliesst auch die soziale Verantwortung mit ein. Darum war auch unsere Beziehung zur Wirtschaft eine wichtige: Man hat aufeinander gehört und miteinander geredet. Das war konstruktiv und befruchtend. Wirtschaft und Politik und Gesellschaft müssen miteinander harmonieren.

Es waren aber Freisinnige selbst, die den Slogan verkürzten – und auf Wahlplakate druckten.

Das weiss ich nicht mehr. Ich weiss nur, dass wir den Staat nie schlecht machen wollten. Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass es dort, wo es den Staat braucht, ein starker Staat sein muss. Was wir ablehnen, sind zuviel Bürokratie, Detailvorschriften und Einmischung in private Dinge.

Wie funktionierte das Zusammenspiel zwischen FDP und Wirtschaft?

Es gab regelmässige Treffen mit Wirtschaftsverbänden. Und ich war in mehreren Verwaltungsräten, wo ich versucht habe, meine politische Sicht einzubringen und gleichzeitig zu spüren, wo der Wirtschaft der Schuh drückt. Das war ein vertrauensvolles Verhältnis: Ich wurde nie von den Wirtschaftsvertretern missbraucht, um etwas in deren Sinn zu erreichen.

Trotzdem war die Nähe wichtig.

Ja, es muss funktionieren zwischen der Politik und der Wirtschaft. So wie es zwischen Politik und Gesellschaft funktionieren muss. Ein Beispiel, das für mich symptomatisch für das damalige Verhältnis war: Ich war im Verwaltungsrat der Zürich-Versicherung, als wir im Parlament die erste Mehrwertsteuer-Vorlage behandelten. Ich setzte mich mit Leib und Seele für diese Vorlage ein. Weil ich überzeugt war, aus einer Gesamtsicht heraus, dass es eine Mehrwertsteuer für die Schweiz braucht. Die Zürich-Versicherung hingegen war überhaupt nicht zufrieden mit der Vorlage. Sie schrieb allen Kunden einen Brief, in dem sie ihnen von der missratenen Vorlage abriet. Und ich trat gleichzeitig Abend für Abend für die Vorlage auf. Als wir diese Diskrepanz im Verwaltungsrat diskutierten, sagte ich dem Präsidenten: Ich kann nicht anders und ich will nicht anders. Er hat das akzeptiert. Ich sei als Parlamentarierin um eine Schweizer Lösung bemüht, er vertrete die Sicht des Unternehmens. So war das. Ihm wäre niemals in den Sinn gekommen, mich umzustimmen.

War es schwierig, als Aussenstehende im Zürcher Freisinn akzeptiert zu werden?

Nein, in Zürich ist die Gesellschaft sehr offen. In Basel oder Bern wäre das vielleicht schwieriger. Aber ich und mein Mann, wir stammen beide aus der Ostschweiz, hatten niemals Probleme in der Partei. Ich habe Zürich immer als eine sehr tolerante und offene Stadt erlebt.

In den 1980er-Jahren wuchs die Kritik am Zürcher Freisinn – er wurde auch parteiintern als zu mächtig empfunden. Wie haben Sie das erlebt?

Kürzlich war ich an einem Vortrag über Alfred Escher. Er hat einen gewaltigen Anteil an der heutigen Prosperität der Schweiz, aber auch er wurde angefeindet. Im Publikum wurde gefragt, ob das eine typische Schweizer Eigenschaft sei, den Überdurchschnittlichen einen auf den Deckel zu geben. Nun ja. Zu meiner Zeit in der Politik stellten die Zürcher ein Sechstel der gesamten Bevölkerung, aber ein Viertel des Steuersubstrats. Wir hatten eine führende Stellung im Finanz- und Werkplatz. Vielleicht hat man uns darum als arrogant und dominant beurteilt. Ich hatte auf jeden Fall nie das Gefühl, so zu sein. Was heisst schon Macht? Nur weil ich im einen oder anderen Verwaltungsrat war, hatte ich doch nicht mehr Macht. Ich hatte genau eine Stimme, wie alle anderen auch. In der Politik ist die Überzeugungskraft die einzige Macht.

Ihre politische und ihre wirtschaftliche Karriere waren beide sehr erfolgreich. Wäre die eine ohne die andere möglich gewesen?

Nein. Ohne mein Nationalratsmandat wäre ich kaum in diese Verwaltungsräte gekommen. Dazu war ich noch eine Frau. Es gab damals einen gewissen Druck in den Verwaltungsräten der Schweizer Firmen: Wann kommt endlich die erste Frau? Ich war damals eine der wenigen mit den richtigen Voraussetzungen. Eine Frau mit einer Affinität zu Wirtschafts- und Finanzpolitik. Frauenpolitik habe ich nie gemacht. Wir hatten bei den FDP-Frauen den schönen Slogan: Wir machen nicht Frauen-Politik. Wir machen als Frauen Politik. Das ist ein wichtiger Unterschied.

Wie haben Sie die Zeit nach dem EWR-Nein im Freisinn erlebt?

Die Abstimmung war ein Schock. Ist es heute noch. Das war aus meiner Sicht wohl der schlechteste Entscheid, den das Volk je getroffen hat. Der EWR wäre für uns die massgeschneiderte Lösung gewesen. Aber ich habe die Gegenseite auch verstanden, mir waren die Argumente für ein Nein nachvollziehbar. Auch durch unsere Partei ging ein Graben. Ich vergesse nie mehr, wie uns Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz in der Fraktion erklärte, die Efta – zu denen wir gehörten – dürften in der EU nur noch mit einer Stimme reden. Da lief es mir kalt den Rücken hinab. Wir brauchten dann sehr lange, bis wir die Vorlage im Parlament fertig beraten hatten und konnten erst im August mit dem Abstimmungskampf beginnen. Blocher hatte einen Vorsprung, der fand die Verträge einewäg schlecht. Als wir dann endlich mit unseren Argumenten beginnen konnten, war das sehr anspruchsvoll: Wenig Zeit, widersprüchliche Signale aus allen Richtungen, eine schwierige Thematik – das Nein des Volkes war absehbar. Trotzdem halte ich das Nein nach wie vor für einen Fehler. Staatssekretär Franz Blankart, der damals die Verträge ausgehandelt hatte, sagte es richtig: Wir brauchen den EWR, um nicht in die EU zu müssen. So falsch ist das nicht, auch wenn wir jetzt die bilateralen Verträge haben.

Wird die Schweiz langfristig der EU beitreten?

Schwierig. Ich hoffe immer noch, die EU würde sich uns etwas angleichen. Der Grundgedanken der EU ist ein guter und tupfgenau der gleiche, der die Schweiz 1848 zusammen gebracht hat: Man will Kriege verhindern und die wirtschaftliche Potenz steigern. Nun muss man hoffen, dass die Schweiz nicht in eine Situation kommt, in der sie mit dem Messer am Hals in die EU muss.

Zurück zur Entwicklung der FDP: Ein Schlüsselmoment in der Beziehung zwischen Freisinn und Wirtschaft war der Fall Swissair. Für Beteiligte wie Eric Honegger war er auch eine persönliche Zäsur. Wie erlebten Sie den Fall Swissair menschlich?

Es war keine einfache Zeit. Ich wurde jeweils fast angespuckt, wenn ich ein Restaurant betrat. Aber ich wurde wohl nicht so tief getroffen wie Eric Honegger oder Mario Corti, obwohl auch ich im Fokus der Kritik stand. Alles in allem bin ich unbeschadet da herausgekommen, denn ich wusste immer, dass wir ganz sicher nichts Kriminelles getan hatten. Und immer wusste ich auch, dass niemand von uns zu seinem eigenen Vorteil handelte. In der schwierigen Situation, in der sich die Swissair nach dem EWR-Nein befand, versuchten wir das Beste zu machen. Weder strafrechtlich noch zivilrechtlich wurde der Verwaltungsrat von den diversen Gerichten schuldig gesprochen. Man hat uns beschieden, dass wir taten, was wir tun mussten.

In der öffentlichen Wahrnehmung blieb aber von der Swissair-Führung kein gutes Bild. War der Fall Swissair ein Wendepunkt für den Zürcher Wirtschaftsfreisinn?

Die Swissair war keine FDP-Veranstaltung. Und ich war auch nicht von der Partei dort hinein abgeordnet worden. Die Tatsache, dass wir heute nur noch vier Nationalräte haben statt neun, hat viele Gründe. Möglicherweise mag die Swissair da einen Teil beigetragen haben. Die Internationalisierung der Wirtschaft spielt jedoch sicher mit und vielleicht auch das Ausscheiden von Elisabeth Kopp aus dem Bundesrat.

Von den politischen Gegnern wurde der Fall Swissair aber gezielt zum Fall FDP umgedeutet. Oder erlebten Sie das nicht so?

Ich erlebte sehr deutlich die Hetze, die gegen Mitglieder des Verwaltungsrats verübt wurde. Nach dem Gerichtsentscheid von Bülach wurde es aber viel ruhiger. Das Gericht nahm uns ja zu hundert Prozent in Schutz und warf der Staatsanwaltschaft Schaumschlägerei vor.

Die Gerichtsentscheide waren eindeutig. Doch gleichzeitig distanzierten sich führende FDP-Vertreter deutlich vom Verwaltungsrat. Fühlten Sie sich in dieser Phase von der Partei gestützt?

Nicht wirklich, nein. Ausgegrenzt fühlte ich mich nicht, aber auch nicht getragen.

Was wog schwerer: Volkes Zorn oder die mangelnde Unterstützung aus den eigenen Reihen?

Es war beides nicht einfach. Dabei gab es loyale Parteikollegen, und es gab andere.

Was erhielten Sie für Reaktionen nach dem Freispruch von Bülach?

Nicht mehr viele. Ich weiss nur, dass einige CVP-Kollegen aus dem Ständerat sehr unterstützend waren, in Briefen und so weiter.

Sie haben betont, wie konstruktiv und eng das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Freisinn lange war. Heute hat man manchmal das Gefühl, als schäme sich die Partei für diese Nähe.

Es gibt ja auch einiges in der Wirtschaft, auf das man nicht mehr stolz sein kann.

Wie erklären Sie sich den Aufstieg der SVP?

Die EWR-Abstimmung hat das Land nachhaltig gespalten und so den Boden gelegt. Die SVP hat einfache Rezepte, die in der Unsicherheit und Angst auf Nachfrage stossen. Sie politisiert nicht, um Probleme zu lösen, sondern um sie zu bewirtschaften. Es wäre deshalb an der Zeit, die konstruktiven Kräfte im Land würden aufwachen und der SVP etwas entgegen setzen. Wir müssen uns darauf besinnen, was die Schweiz gross gemacht hat: Politik mit Augenmass und der Konsens.

Wie gefällt Ihnen die FDP in ihrem heutigen Zustand?

Es wäre schön, die FDP würde noch einmal zu ihrer alten Stärke auflaufen. Es braucht sie einfach. Die Schweiz basiert auf einem Grundkonsens, der in Gefahr ist. Dieser Grundkonsens besteht darin, dass jeder weiss, dass er alleine nicht über die absolute Wahrheit verfügt. Je nachdem, ob jemand eine Frage als Gewerkschafter oder als Arbeitgeber beurteilt, als Konsument oder als Bauer: Das Urteil fällt immer ein wenig anders aus, aus nachvollziehbaren Gründen. Die Stärke der Schweiz war es immer, das Urteil des Anderen zu akzeptieren und auf ihn zuzugehen. Daraus ergeben sich konstruktive Lösungen, in denen sich alle ein Stück weit finden. Die FDP hat dies  immer hochgehalten. Was ich heute als gefährlich erachte, ist, dass die SVP für sich die alleinige Wahrheit pachtet. Was die SVP sagt, sei richtig: «Schweizer wählen SVP». Das ist für die Schweiz gefährlich. Und deshalb braucht es die FDP, die für konstruktive und breit abgestützte Lösungen einsteht.

Wie hat der Niedergang des Freisinns das Land verändert? Warum ist die Schweiz in entscheidenden Fragen gespalten? Wie konnte die SVP so dominant werden?

Die Geschichte, die dieses Buch erzählt, ist eine dramatische. Es ist die Geschichte von falschen Entscheidungen, mächtigen Gegnern und Wendungen, die sich nicht kontrollieren ließen. Und es ist eine Geschichte von aktueller Relevanz, die den Schlüssel zum Verständnis der Schweiz von heute liefert. Einer Schweiz, die in den wichtigsten Fragen gespalten ist. Der tiefe Graben, der sich durch unser Land zieht, wäre ohne den Niedergang des Freisinns nicht denkbar. Zum ersten Mal wird diese entscheidende Entwicklung in der Schweizer Innenpolitik vertieft dargestellt.


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Vernissage am 7. Mai im Kaufleuten, Zürich. Infos & Tickets

Podium mit Philipp Müller (Parteipräsident FDP), Michael Hermann (Politikwissenschaftler), Anita Fetz (Ständerätin BS, SP) und Markus Somm (Chefredaktor Basler Zeitung). Moderation: Res Strehle (Chefredaktor Tages-Anzeiger).

Timeline

Die Autoren

Alan Cassidy, 1983, studierte Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Er arbeitete als Reporter im Rechercheteam der Basler Zeitung, ab 2011 im Bundeshaus, heute für die Schweiz am Sonntag als Korrespondent im Bundeshaus.

Philipp Loser, 1980, studierte Geschichte und Philosophie an der Universität Basel. Er arbeitete bei der Volksstimme in Sissach, bei der Basler Zeitung im Stadtressort sowie ab 2009 im Bundeshaus. Er gehörte 2011 zum Gründungsteam der TagesWoche, wo er zwei Jahre im Bundeshaus arbeitete. Seit März 2014 ist er Inlandredaktor beim Tages-Anzeiger.

Kontakt: info@fallfdp.ch

Bild: Hans-Jörg Walter