Kampf um die NZZ

 

Auszug aus Kapitel 9

Der Text setzt ein kurz nach der Absetzung von Markus Spillmann als Chefredaktor der NZZ.

Es folgten Wochen der direkten und indirekten Abgrenzung. In seinem letzten Text als Chefredaktor schrieb Spillmann auf der Front seiner Zeitung über «Rückgrat und Verantwortung» eine kaum verklausulierte Anklage an den Verwaltungsrat und jene Kräfte, die die NZZ näher zur SVP rücken möchten: «Unverändert gilt, dass die NZZ in ihrer redaktionellen Linie der liberalen Haltung verpflichtet ist. Es irrt freilich, wer glaubt, Redaktionen liessen sich für eine ‹Repolitisierung› instrumentalisieren, um einer ideologischen Verengung oder einer Parteidoktrin zu dienen.» Spillmann schaffte es auch, eine Spitze gegen seinen vermeintlichen Nachfolger einzubauen. Nie würde es einem Journalisten der NZZ einfallen, sich als Statthalter für jemanden oder etwas zu bezeichnen. Das war eine Anspielung auf eine Szene, die sich bei der Vorstellung Somms bei der BaZ zutrug und die seither in kaum einem Text über ihn fehlte: Somm soll sich beim ersten Treffen mit der Redaktion als «Statthalter von Blocher» bezeichnet haben. Somm dementiert das. Anwesende haben es leicht anders in Erinnerung: Somm benutzte zwar das Wort Statthalter, meinte es aber ironisch: Als ob er es nötig hätte, sich von Blocher Anweisungen holen zu müssen. «Wir denken in entscheidenden Fragen gleich.»

Wie nahe sich Blocher und sein Biograf ideologisch stehen, sieht, wer Somms Leitartikel liest. Auch Somm ist die Versöhnung im bürgerlichen Lager ein Anliegen. Bereits im November 2014, einen Monat vor der öffentlichen Diskussion um seine Stellung bei der NZZ, rief er die beiden Parteien zu einem «bürgerlichen Schulterschluss» auf. Wenn sich FDP und SVP nicht finden würden, gehe man schweren Zeiten entgegen: «Nichts hat die SP in den letzten zwanzig Jahren so mächtig gemacht wie der Kampf der beiden bürgerlichen Parteien.» In einem für Somm seltenen, beinahe versöhnlichen Ton, appellierte er an die Parteien, die Unterschiede zu überwinden und das Gemeinsame zu suchen. Vor allem in der Europafrage – jenem Thema, das das Verhältnis zwischen FDP und SVP am meisten belastete: «Was wie ein unüberwindlicher Gegensatz aussieht, liesse sich glätten.»

Der angestrebte «Schulterschluss» mit der FDP hat einen machtpolitischen Hintergrund, der über die reine Sehnsucht nach Versöhnung hinausgeht: Seit Blocher 2007 aus dem Bundesrat abgewählt wurde, wähnen sich die SVP und Somm von einem von Mitte-links dominierten Bundesrat regiert. Diese Mehrheit soll gemeinsam mit der FDP wieder gekippt werden. Wie diese Zusammenarbeit funktionieren könnte, illustrierte der Chefredaktor der BaZ etwas später in einem Text über die Wahlen im Baselbiet. Der Landkanton müsse ein Vorbild für die gesamte Schweiz sein – nirgends arbeiteten die bürgerlichen Parteien so harmonisch zusammen. Ergänzt würde die bürgerliche Harmonie durch das «höchst segensreiche Wirken» der Wirtschaftskammer. Somm beschrieb in seinem Text über das Baselbiet eine Schweiz von früher: dominante Bürgerliche, im Hintergrund unterstützt und gesteuert von einer mächtigen Wirtschaftsorganisation. Was der Chefredaktor in seinem Text verschwieg: Es war das bürgerliche Machtkartell aus FDP, SVP und Wirtschaftskammer, das den Kanton in vergangenen Jahren erst in eine anhaltende Finanz- und Identitätskrise gestürzt hatte. Doch Ergebnisse sind in dieser Lesart sekundär: Es zählt die Macht.

Darum geht es Somm. Darum geht es Köppel und Blocher. Die Diskussion um den neuen Chefredaktor der NZZ diente als Vehikel, um das wahre Thema zu lancieren. Als Somm der NZZ bereits abgesagt hatte, schrieb er einen langen Leitartikel, in dem er seine These vom November noch einmal wiederholte: Es sei nun endlich an der Zeit, dass die Freisinnigen sich wieder trauten, Dinge zu vertreten, auch wenn die SVP der gleichen Meinung sei. «Viele Positionen, die immer freisinnig waren, teilt die SVP – doch ist sie in manchem die Kopie, die FDP war das Original. Während viele Freisinnige sich fast obsessiv darum bemühen, sich von der SVP zu distanzieren, realisieren sie oft nicht, wie sie sich vom eigenen Gedankengut distanzieren», schrieb Somm über die FDP und meinte damit wohl auch die Journalisten der NZZ. Weniger subtil war Roger Köppel, der nach der Absage seines Kollegen zur grossen Stil- und Inhaltskritik ausholte: «In den Büroräumen an der Falkenstrasse tanzen jetzt wie euphorische Hausbesetzer die Angestellten. Willkommen in der Wohngemeinschaft NZZ. Einst war die NZZ das Bollwerk des Zürcher Wirtschaftsfreisinns. Heute geben in den ehrwürdigen Redaktionsstuben die Linksfreisinnigen und Leute in legerer Kleidung den Ton an.» Diese linksfreisinnige Journalisten-WG habe heute das Kommando übernommen und repräsentiere jenen orientierungslosen Teil der FDP, «der sich mit Zähnen und Klauen gegen eine engere bürgerliche Zusammenarbeit mit der SVP stemmt».

Es wurde schliesslich jemand aus der «linksfreisinnigen Journalisten-WG»: Im März 2015 ernannte der Verwaltungsrat den bisherigen Auslandchef Eric Gujer zum neuen Chefredaktor. Er arbeitet seit dreissig Jahren bei der Zeitung, gilt als bürgerlich – und ist nicht verbandelt mit der SVP oder Christoph Blocher.

Der Schmerz der Konservativen

Die NZZ und die FDP, sie waren den Konservativen vorerst entglitten. Wie gross der Schmerz sein muss, sah man an Reaktionen wie jener von Köppel. Die Sehnsucht scheint paradox: Jahrelang zelebrierten sie ihre Differenzen mit dem Freisinn. Nun reagierten die gleichen Kreise enttäuscht, weil die wieder entflammte Liebe nicht sofort erwidert wurde. In ihrer Logik hatte diese Enttäuschung nichts Widersprüchliches: War es nicht immer schon so, dass SVP und FDP gemeinsam marschierten? Dass die Verwirrung in der Europafrage nur eine Episode war, ein nur scheinbar «unüberwindlicher Gegensatz», der sich glätten liesse, wenn man nur wollte? Und würde man sich nicht finden, wenn man sich auf jene Gemeinsamkeiten (zum Beispiel die NZZ) konzentrierte, die schon immer da waren?

Wenn es nur die Europafrage wäre, die FDP und SVP trennte, liesse sich vielleicht so argumentieren. Doch all jenen, die nichts mit einem «Freisinn blocherscher Prägung» anfangen können, geht es um mehr. Es geht um die Frage, was denn eine «bürgerliche» Haltung ausmacht. Für die Rechte ist es: Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Neutralität und direkte Demokratie. Es sind Werte, die viele Freisinnige teilen, die ihnen aber nicht genug sind. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltentrennung, der Schutz der staatlichen Institutionen und der Respekt der Menschenrechte: Auch das Bekenntnis zu diesen Werten gehöre zu einer bürgerlichen Haltung.

Hier setzt die Linke an, wenn sie ihrerseits um die FDP wirbt. Funktioniere die moderne Schweiz nicht vor allem wegen der Allianz von FDP und SP?, fragte SP-Präsident Christian Levrat zum Auftakt des Wahljahres 2015. Sei es nicht die SVP, die ihr Bild der Schweiz auf Mythen gründe, während die FDP und die SP den Ursprung der Schweiz im Bundesstaat von 1848 sehen? Brauche eine Schweiz von heute nicht den Schulterschluss in der Mitte, eine neue «Koalition der Vernunft»?

Auch das ist es, was die FDP von allen anderen Parteien unterscheidet: Sie hat – wie die NZZ – einen Stellenwert als Projektionsfläche, der weit über ihre tatsächliche Bedeutung hinausgeht. Von zwei Seiten wird der Freisinn unter Beschlag genommen und vereinnahmt. Beide Pole der politischen Schweiz sehen im Freisinn einen natürlichen Verbündeten. Die Rechte wünscht sich den Freisinn der Nachkriegszeit zu- rück: wirtschaftspolitisch rigide, aussenpolitisch auf sich selbst beschränkt. Die Linke hingegen wünscht sich eine FDP der Staatsgründer, wie sie sie in den 1990er-Jahren zu erkennen glaubte: fortschrittlich, offen, modern. Diese Projektionen begleiten die Partei seit ihren Anfängen. In der breiteren Öffentlichkeit werden sie immer dann sichtbar, wenn ein Ereignis den Kern des schweizerischen Selbstverständnisses berührt. Zum Beispiel, wenn eine Institution wie die NZZ ihren Chefredaktor entlässt – und die Schweiz danach hysterisch über die politischen Implikationen dieser Kündigung diskutiert.

Beide Seiten denken sich ihren Freisinn so, wie sie ihn gerne hätten. Beide blenden dabei aus, was der Freisinn nie war: so isolationistisch, wie ihn viele Rechte gerne hätten und so gesellschaftsliberal, wie Linke sich ihn erträumen.

 

 

Wie hat der Niedergang des Freisinns das Land verändert? Warum ist die Schweiz in entscheidenden Fragen gespalten? Wie konnte die SVP so dominant werden?

Die Geschichte, die dieses Buch erzählt, ist eine dramatische. Es ist die Geschichte von falschen Entscheidungen, mächtigen Gegnern und Wendungen, die sich nicht kontrollieren ließen. Und es ist eine Geschichte von aktueller Relevanz, die den Schlüssel zum Verständnis der Schweiz von heute liefert. Einer Schweiz, die in den wichtigsten Fragen gespalten ist. Der tiefe Graben, der sich durch unser Land zieht, wäre ohne den Niedergang des Freisinns nicht denkbar. Zum ersten Mal wird diese entscheidende Entwicklung in der Schweizer Innenpolitik vertieft dargestellt.


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Vernissage am 7. Mai im Kaufleuten, Zürich. Infos & Tickets

Podium mit Philipp Müller (Parteipräsident FDP), Michael Hermann (Politikwissenschaftler), Anita Fetz (Ständerätin BS, SP) und Markus Somm (Chefredaktor Basler Zeitung). Moderation: Res Strehle (Chefredaktor Tages-Anzeiger).

Timeline

Die Autoren

Alan Cassidy, 1983, studierte Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Er arbeitete als Reporter im Rechercheteam der Basler Zeitung, ab 2011 im Bundeshaus, heute für die Schweiz am Sonntag als Korrespondent im Bundeshaus.

Philipp Loser, 1980, studierte Geschichte und Philosophie an der Universität Basel. Er arbeitete bei der Volksstimme in Sissach, bei der Basler Zeitung im Stadtressort sowie ab 2009 im Bundeshaus. Er gehörte 2011 zum Gründungsteam der TagesWoche, wo er zwei Jahre im Bundeshaus arbeitete. Seit März 2014 ist er Inlandredaktor beim Tages-Anzeiger.

Kontakt: info@fallfdp.ch

Bild: Hans-Jörg Walter