Das Problem Europa

 

Auszug aus Kapitel 5

«Das kostet uns drei Prozent. Mindestens.» Es war der Abend des 21. April 1995, als FDP-Präsident Franz Steinegger gemeinsam mit Esther Girsberger, der damaligen Chefredaktorin des Tages-Anzeigers, im Halbdunkel des Berner Oberlands zu seinem Auto spazierte. In diesem Moment wusste er: Die nächsten Wahlen sind verloren. Hinter ihm lag ein «unseliger Parteitag» in Interlaken und seine grösste Niederlage als freisinniger Parteipräsident. Vor ihm lagen: schwierige Zeiten.

Beinahe zwanzig Jahre später treffen wir Steinegger in seinem leicht ausser Mode geratenen und düsteren Büro hinter dem Telldenkmal in Altdorf. Der ehemalige Präsident erinnert sich noch heute an jedes Detail dieses Tages in Interlaken. Alles sei perfekt vorbereitet gewesen, die Fraktion war auf Kurs, aber dann: der Aufstand. «Ich habe etwas geschmöckt, konnte es aber nicht mehr verhindern.» Zweimal habe er vor der Versammlung mit seinem Generalsekretär Christian Kauter gesprochen. Ihn gefragt, ob er alles im Griff habe, was los sei. Kauter beschwichtigte, Steinegger zweifelte.

Es war Ernst Mühlemann, der an der Delegiertenversammlung in Interlaken das neue Positionspapier zu den «Aussenpolitischen Grundsätzen» der Partei vorstellte. Nach der desaströsen Niederlage der Partei bei der EWR-Abstimmung drei Jahre zuvor wollte sich die Partei europapolitisch neu ausrichten und versuchte es allen recht zu machen. «Wer im aussenpolitischen Positionspapier, über das die FDP-Delegierten heute in Interlaken zu befinden haben, nach klaren Antworten auf wichtige Fragen sucht, geht weitgehend leer aus», hiess es in einer Vorschau im Bund. Freundlich, vage, unbestimmt – die Partei verhandelte ein Papier ohne Angriffsflächen, eine «Meisterleistung in der Vermeidung klarer Positionsbezüge», wie es im Vorfeld hiess. Journalistin Esther Girsberger leitete in Interlaken ein wenig kontroverses Podium zum Thema, die Sache schien gelaufen.

Doch dann verlangte Pierre-Louis Bornet das Wort, der Präsident der Waadtländer Radikalen, und stellte den Antrag, die EU-Beitritts-Initiative offiziell zu unterstützen. Fünf europafreundliche Organisationen hatten diese Volksinitiative im Dezember 1994 als Antwort auf das EWR-Nein lanciert, als «wirksamstes Mittel, um der immer stärker in Erscheinung tretenden Provinzialisierung des geistigen Klimas entgegenzutreten», wie es die Initianten von der Aktion Europa Dialog ausdrückten.

Doch das ging selbst vielen Romands im Freisinn zu weit. Johnny Hamel aus Genf sprach sich gegen die Idee von Bornet aus und schlug stattdessen vor, die Beitrittsoption stärker in den Vordergrund rücken. Am besten im Parteiprogramm. Bornet zog seinen Antrag zurück, die Versammlung verhandelte stattdessen die Idee aus Genf.

Das war es, was Steinegger «geschmöckt» hatte. Auf dem Podium der Parteileitung brach Panik aus, neue Redner gegen den Antrag wurden aufgeboten, Steinegger selbst ergriff das Wort und erinnerte die Versammlung daran, dass die FDP die Unterstützung des EU-Beitritts als strategisches Ziel schon zweimal deutlich abgelehnt habe. Dann folgte die Abstimmung, «in einer für eine freisinnige Delegiertenversammlung ungewöhnlich knisternden Stimmung», wie die NZZ später schrieb. Sollte das Positionspapier zu den Grundsätzen in seiner ursprünglichen Form verabschiedet werden? Oder sollte darin die Zielsetzung eines EU-Beitritts stehen? Am Schluss jubelten die Welschen. Mit 102 zu 81 Stimmen nahm die FDP das EU-Beitrittsziel in ihr Parteiprogramm auf.

Der Drahtzieher des Aufstands konnte seine Freude kaum verbergen. Peter Tschopp, Genfer Nationalrat mit Basler Wurzeln, ein linksfreisinniger Europafreund, hatte den Angriff auf die Position der Parteileitung im Vorfeld der Abstimmung orchestriert. Gemeinsam mit den Jungfreisinnigen drückten die Freisinnigen aus der Romandie der Deutschschweizer Parteiführung den neuen Europa-Kurs auf. Nach seinem Coup er- götzte sich Tschopp vor allem an der persönlichen Niederlage des Parteipräsidenten. «Die Forderung nach Steineggers baldigem Rücktritt war Teil des demonstrativen Jubels», hielt die Schweizerzeit später fest.

Es war eine wirre Situation: Die verschiedenen Flügel der Partei versuchten mit aller Kraft, das Ergebnis von Interlaken zu ihren eigenen Gunsten zu deuten. Im Pressedienst der Partei bezeichnete Nationalrat Marc F. Suter den Entscheid der Delegiertenversammlung als klaren Schulterschluss der Partei mit dem Bundesrat und dessen Politik, den EU-Beitritt zum «strategischen Ziel» der Schweiz zu erklären. In der gleichen Ausgabe des Pressedienstes beteuerte dagegen der Aargauer FDP-Nationalrat Ulrich Fischer, der EU-Beschluss der FDP-Delegierten bedeute keineswegs einen Kurswechsel. Die FDP-Delegierten hätten mit ihrem Votum eigentlich bloss «mehr symbolisch als praktisch» daran erinnert, dass die Option EU-Beitritt als eine unter mehreren Optionen noch immer Gültigkeit habe.

Ausserhalb der Partei war die Rezeption des Entscheids von Interlaken nicht so widersprüchlich. «Wir waren bis zu einem gewissen Grad in einer verschissenen Situation, aus der es keinen Ausweg gab», sagt Franz Steinegger zwanzig Jahre später.

Das Europa-Thema war zur Bürde geworden, zur Einladung an den politischen Gegner. In Diskussionen über Europa-Politik sei es danach einfach gewesen, die FDP auf den einen Entscheid zu fixieren. «Blocher sagte bei solchen Debatten immer: Ihr seid ja sowieso für den Beitritt.» Für Steinegger ist die freisinnige Europapolitik dieser Dekade ein entscheidender Grund für den Aufstieg von Christoph Blocher und seiner SVP. «Sie spielten es gut, gut und rücksichtslos. Wir wurden als Landesverräter hingestellt wegen unserer Unterstützung des EWR und dem Parteitagentscheid von 1995.»

Bei den Wahlen im gleichen Jahr war die FDP wieder die grosse Verliererin. Es waren nicht drei Prozent, wie Steinegger auf dem Parkplatz in Interlaken vorausgesagt hatte. Noch nicht. Doch der Freisinn hatte sich in der Öffnungsfrage verrannt, politisierte an den eigenen Wählern vorbei. «Ich wusste, dass eine Mehrheit unserer Basis gegen den EU-Beitritt ist», sagt Steinegger. Sein Nachfolger als Parteipräsident, Gerold Bührer, war ebenfalls in Interlaken und mindestens so geschockt. «Der Interlaken-Entscheid hat seinerzeit tief verankerte Grundsätze unterminiert: die Neutralitätspolitik, den gelebten Föderalismus und die direkte Demokratie», sagt er zwanzig Jahre später in einem bequemen Stuhl der Bar im Hotel Bellevue in Bern. Niemals sei er so enttäuscht von einem Parteitag heimgefahren. «Das vergesse ich nie.»

Wie hat der Niedergang des Freisinns das Land verändert? Warum ist die Schweiz in entscheidenden Fragen gespalten? Wie konnte die SVP so dominant werden?

Die Geschichte, die dieses Buch erzählt, ist eine dramatische. Es ist die Geschichte von falschen Entscheidungen, mächtigen Gegnern und Wendungen, die sich nicht kontrollieren ließen. Und es ist eine Geschichte von aktueller Relevanz, die den Schlüssel zum Verständnis der Schweiz von heute liefert. Einer Schweiz, die in den wichtigsten Fragen gespalten ist. Der tiefe Graben, der sich durch unser Land zieht, wäre ohne den Niedergang des Freisinns nicht denkbar. Zum ersten Mal wird diese entscheidende Entwicklung in der Schweizer Innenpolitik vertieft dargestellt.


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Vernissage am 7. Mai im Kaufleuten, Zürich. Infos & Tickets

Podium mit Philipp Müller (Parteipräsident FDP), Michael Hermann (Politikwissenschaftler), Anita Fetz (Ständerätin BS, SP) und Markus Somm (Chefredaktor Basler Zeitung). Moderation: Res Strehle (Chefredaktor Tages-Anzeiger).

Timeline

Die Autoren

Alan Cassidy, 1983, studierte Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Er arbeitete als Reporter im Rechercheteam der Basler Zeitung, ab 2011 im Bundeshaus, heute für die Schweiz am Sonntag als Korrespondent im Bundeshaus.

Philipp Loser, 1980, studierte Geschichte und Philosophie an der Universität Basel. Er arbeitete bei der Volksstimme in Sissach, bei der Basler Zeitung im Stadtressort sowie ab 2009 im Bundeshaus. Er gehörte 2011 zum Gründungsteam der TagesWoche, wo er zwei Jahre im Bundeshaus arbeitete. Seit März 2014 ist er Inlandredaktor beim Tages-Anzeiger.

Kontakt: info@fallfdp.ch

Bild: Hans-Jörg Walter