Christine Beerli: «Wir konnten sie nicht stoppen, wir hatten kein Rezept»

Aus der Politik hat sich Christine Beerli, die heutige Vizepräsidentin des IKRK, vor über zehn Jahren verabschiedet. In den 1990er-Jahren wurde die Berner Ständerätin als erste Frau Fraktionschefin der FDP im Bundeshaus und prägte unter dem Stichwort «Beerli-Freisinn» die Hoffnung auf eine andere, eine menschlichere FDP. Ihr Erfolg damit: bescheiden. Gegen den Aufstieg der SVP habe sie nichts ausrichten können, erzählt sie uns während des Gesprächs im November 2014 in Bern.

 

In den 1980er-Jahren öffnete sich der Freisinn nach links: Er wurde ökologischer und sozialer. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Christine Beerli: Für meine politische Sozialisierung spielte diese Zeit eine wichtige Rolle. Teile der Partei strahlten eine sozialliberale Haltung und eine Öffnung in ökologischen Fragen aus, die besonders von Frau Kopp verkörpert wurde. Die FDP war damals auch die einzige Partei mit einem liberalen Gedankengut. Da ich selber stark liberal geprägt bin, war die FDP die logische Wahl. Dass sich die Partei gleichzeitig auch öffnete, hat die Wahl erleichtert.

Sie prüften damals den Beitritt zu verschiedenen Parteien, bevor Sie sich entschieden. Wären Sie auch zur FDP gegangen, wenn diese das gesellschaftsliberale Element in diesem Moment nicht gehabt hätte?

Dieses Element war sehr wichtig. Ich war immer der Meinung, meine Partei müsse liberal sein in der Wirtschafts- und Finanzpolitik und gleichzeitig offen und sensibel für ökologische Fragen. Die FDP hatte schon sehr früh dieses Profil – und verlor es leider später wieder. Das ist für mich bis heute schwer zu verstehen. Es ist ein Sündenfall, dass eine Partei wie die Grünliberalen entstehen musste. Die Grünliberalen gehören eigentlich zu uns.

Die Öffnung des Freisinns stiess im konservativen Teil der Partei nicht auf grosse Gegenliebe. Wie haben Sie die Flügelkämpfe erlebt?

Auf kantonaler Ebene gab es keine Flügelkämpfe, da hat man sachorientiert politisiert. Auseinandersetzungen erlebte ich erst später in der Bundeshausfraktion.

Von Beginn an?

Ja, es gab diese Kämpfe immer. Aber sie waren nicht unangenehm. Ich war immer überzeugt: Breitgefächerte Meinungen sind ein Reichtum der FDP. Sie vergrössern das Terrain, das die Partei besetzen kann. Störend war das nicht, jedenfalls am Anfang. Je höher man dann aber in der parteiinternen Hierarchie steigt, desto eher wird man zum Gefahrenpotenzial. Dass es da Verhärtungen gibt, ist nachvollziehbar.

Über eine längere Periode betrachtet, scheint die Zeit mit Ihnen als Fraktionschefin und Franz Steinegger als Parteipräsident ein progressiver Ausreisser in der Geschichte der Partei zu sein.

Das ist schwierig zu beurteilen. In wichtigen Fragen, dem EWR oder den Bilateralen, haben wir immer eine ziemlich einheitliche Fraktion hingebracht. Auf der anderen Seite hat sich unser Kurs bei den Wahlen nicht bewährt – es ging immer leicht bergab. Mich hat das erstaunt, weil ich Steinegger als einen starken Präsidenten empfand. Aber auch ihm gelang es nicht, den Trend zu drehen.

Verklären Sie diese Zeit nicht auch etwas? Politisch waren die 90er-Jahre auch die Zeit der grossen Verwirrung im Freisinn. Man dockte mal links, mal rechts an.

Das stimmt sicher. Es war eine grosse Schwierigkeit der Freisinnigen, ja, aller Mitteparteien, dass man sich von den Polen bewegen liess. Wir haben zu oft Dinge gemacht in Abgrenzung gegenüber rechts oder links. Und das hat zu einem Zickzack-Kurs geführt. Wahrscheinlich hätten wir besser auf eine wirklich eigenständige Politik gesetzt. Das hätte vielleicht einen noch grösseren Einbruch bei den Wahlen zur Folge gehabt, aber darauf hätte man aufbauen können. In einer Parteileitung ist eine solche Haltung aber schwierig zu vertreten. Alle wollen die nächsten Wahlen gewinnen.

Wann haben Sie das versucht?

Ein Beispiel dafür war unser Parteiprogramm von 1998, in dem wir einen sehr europafreundlichen Kurs festlegten. Damit bewiesen wir Mut. Aber der wurde nicht honoriert – also haben wir den Kurs sofort wieder korrigiert. Wir konnten damals auch nicht damit rechnen, dass die SVP dreissig Jahre lang mit dem Europathema Politik machen kann.

Die SVP hat seit den 90er-Jahren dominiert, wer und was schweizerisch sein soll. Vorher war der Freisinn der Hüter der Schweizer Identität gewesen. Wie konnte diese Ablösung geschehen?

Das müssen Sie einen Kommunikationsspezialisten fragen. Mir persönlich erschliesst sich jedenfalls nicht, wie ein Herr Blocher, der Inbegriff der Arroganz, in der Bevölkerung ein solches Wir-Gefühl auslösen kann. Aber so ist es leider Gottes. Die SVP hat das Schweizer Selbstverständnis in einer Art und Weise übernommen, die mir weh macht. Die ganze Symbolik, die Mythen, Volksmusik – heute muss ich mich zusammenreissen, um gegenüber diesen Dingen keine Abneigung zu empfinden. Es ist das Kulturgut von uns allen – nicht nur von der SVP.

In den 90er-Jahren hat Ihnen die SVP stark zugesetzt. Ein Rezept gegen diesen Vormarsch hatte die FDP keines.

Nein, wir konnten sie nicht stoppen, wir hatten kein Rezept. Ich selber war auch die falsche Person dafür, ich wurde  immer als zu stark links angesiedelt empfunden. Dass es allerdings auch Franz Steinegger nicht gelang, hat mich erstaunt. Gleichzeitig hat auch die Wirtschaft Sympathien für die SVP entwickelt und sich von der FDP abgewandt.

Wie hat sich das bemerkbar gemacht?

Die Wirtschaftsvertreter, vor allem jene der KMU, haben uns deutlich gesagt, wir seien zu wenig wirtschaftsfreundlich, zu sozialliberal und zu offen. Der Gewerbeverband war damals stark antieuropäisch eingestellt.

Gleichzeitig tat die immer noch bestehende Nähe der FDP zur Wirtschaft der Partei nicht immer gut: Die Ideen im Weissbuch der Wirtschaft und die ersten Lohnexzesse der Manager wurden dem Freisinn angelastet.

Vieles hat der FDP geschadet, ohne wirklich etwas mit der FDP zu tun zu haben. Die Leute vom Weissbuch waren Intellektuelle aus der Wirtschaft mit einem Eigenleben. Die hatten nichts mit der FDP zu tun. Auch die Swissair-Affäre wurde weidlich ausgenützt, auch wenn beileibe nicht alle Verwaltungsräte Freisinnige waren. Plötzlich hatten wir einen Klotz am Bein, den wir nicht mehr losgeworden sind. Wir haben damals auch nicht besonders geschickt kommuniziert.

Zu Ihrer und Franz Steineggers Zeit weigerte sich die Partei, zu früheren, konservativen Positionen zurückzukehren – obwohl sie eher dem Zeitgeist entsprochen hätten. Als Sie und Steinegger weg waren, da schwenkte die FDP innerhalb kurzer Zeit wieder nach rechts. Ihre Erklärung?

Wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, tut man alles, um nicht noch mehr Wähler zu verlieren. Ich will meinen Nachfolgern keinen Vorwurf machen, sie taten ihr Bestes in dieser Situation. Aber es ist halt schon so, wie es Bundesrat Villiger einmal in einer Fraktionssitzung gesagt hat: Es macht markentechnisch keinen Sinn, ein Produkt nachzumachen. Die Leute werden immer das Original kaufen.

Die Marke FDP ist heute eine gänzlich andere als noch in den 90er-Jahren.

Ja. Sie hat eindeutig an Schärfe verloren. In den grossen Debatten und in den Medien hört man oft nur Vertreter von SVP oder SP. Es ist selten, dass ein FDP-Exponent etwas Substanzielles zu sagen hätte. Und das führt in die Bedeutungslosigkeit.

Zu Ihrer Zeit sprach man vom «Beerli-Freisinn». Was bedeutete der Begriff für Sie?

Ich habe den Begriff nie gebraucht. Aber wenn ich ihn definieren müsste, dann wäre das eine politische Ausrichtung mit einer klar konservativen Finanzpolitik, einer liberalen Wirtschaftspolitik und einer grossen Offenheit in der Gesellschaftspolitik und gegen aussen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Abschottung der Schweiz schadet. Und ich glaube, dass es in der Schweiz immer noch Platz gibt für eine solche Partei. Eine, die versucht, nicht nur mit Emotionen, sondern mit Vernunft zu überzeugen. Es gibt in der Schweiz einen Markt für Vernunft. Ich setze meine Hoffnung in die jungen Leute. Irgendwann wird die Zeit der überbordenden nationalen Emotionen vorbei sein und eine neue Generation wird antreten, der es vor allem um die Lösung von Problemen geht.

Zum Beispiel im Verhältnis zu Europa?

Genau. Da sind wir im Moment in einer unglaublich schwierigen Lage. Persönlich bin ich der Meinung, dass nach dem 9. Februar und der Zustimmung zur Zuwanderungsinitiative zwei bis drei Bundesräte hätten zurücktreten sollen. Den Freisinnigen hätte das vielleicht sogar geholfen, es wäre genug Zeit gewesen, um aus einem solchen Schritt Kapital für die nächsten Wahlen zu ziehen. Leider ist nichts geschehen – und die Partei wird bei den nächsten Wahlen erneut verlieren.

Sie wären selber beinahe in den Bundesrat gewählt worden. Wie lange haderten Sie mit Ihrer Niederlage im Jahr 2003?

Gar nicht. Ich war gerne im Ständerat, hatte eine gute Zeit mit guten Kollegen. Aber Politik war nie mein Ein und Alles. Die Kandidatur war ein logischer Abschluss meiner Zeit im Bundeshaus. In ein Loch fiel ich nicht. Vielmehr war es wohl ein Glücksfall: Sonst hätte ich heute nicht den tollen Job beim IKRK.

Dafür war die Partei mit der Wahl von Hans-Rudolf Merz noch weiter nach rechts gerückt.

Ja, das fädelte die CVP geschickt ein. Sie hatten damals die beste Taktik. Als ihre Bundesrätin Ruth Metzler abgewählt wurde, gab Fraktionschef Jean-Michel Cina die Devise aus, Merz zu wählen. Eigentlich wollten viele in der CVP mich unterstützen. Aber der Schwenk war rational begründet und nachvollziehbar. Man hatte der CVP eine Frau abgewählt, das Bindeglied zwischen den Blöcken. Da wollte man der FDP sicher nicht den Gefallen tun, ebenfalls eine Frau zu wählen, die ein Bindeglied hätte sein können. Für die CVP war es besser, den Freisinn mit Merz in eine rechte Ecke zu stellen und selber die Mitte zu besetzen. Das ist ihnen auch nicht schlecht gelungen. Es war ein cleverer Schachzug.

Gibt es für die FDP heute noch einen Weg aus der rechten Ecke?

Ich hoffe auf eine neue Generation. Es gibt junge Leute, die eine Erneuerung bringen könnten. Ich wohne jetzt unter der Woche in Genf und erlebe die beiden freisinnigen Regierungsräte Pierre Maudet und François Longchamp – die sind brillant! Sie kommen hoffentlich bald ins Bundeshaus, um es aufzumischen. Auch Beat Walti aus Zürich bringt neuen Wind. Es braucht mehr solche Köpfe.

Der ewige Streit unter Historikern, ob Strukturen oder Köpfe wichtiger seien, ist in der FDP entschieden: In den meisten unserer Gesprächen wurden die fehlenden Köpfe beklagt.

Ich will nicht nostalgisch sein, aber früher hatte es schon mehr Leute, die wirklich etwas bewegt haben. Franz Steinegger habe ich schon erwähnt. Im Ständerat sassen Leute wie Otto Schoch, René Rhinow oder Fritz Schiesser – Politiker, die argumentieren konnten und zu ihrer Meinung gestanden sind. Die nicht nur schauten, woher der Wind gerade weht. Wen hört man denn heute noch? Den Präsidenten Müller. Aber sonst kommen mir nicht mehr viele in den Sinn.

Wie sehr verfolgen Sie die Schweizer Politik noch, seit Sie beim IKRK arbeiten?

Viel selektiver. Es ist sehr angenehm, nicht mehr jeden Tag alle Zeitungen lesen zu müssen. Die Arbeit bei einer solchen Organisation erweitert die Perspektive. Nehmen Sie die Asylpolitik: Wir fühlen uns grosszügig, wenn wir fünfhundert Flüchtlinge aufnehmen. Im Libanon kommen momentan eine Million Flüchtlinge auf vier Millionen Einwohner. Da scheinen wir plötzlich nicht mehr so grosszügig. Was mich umtreibt: Was heisst eigentlich Leadership? Geht es darum, möglichst viele Follower zu haben oder möglichst seine Haltung zu vertreten? Mit dem Risiko, Follower zu verlieren? Ich tendiere zur zweiten Variante. Manchmal braucht es etwas Mut.

Wie hat der Niedergang des Freisinns das Land verändert? Warum ist die Schweiz in entscheidenden Fragen gespalten? Wie konnte die SVP so dominant werden?

Die Geschichte, die dieses Buch erzählt, ist eine dramatische. Es ist die Geschichte von falschen Entscheidungen, mächtigen Gegnern und Wendungen, die sich nicht kontrollieren ließen. Und es ist eine Geschichte von aktueller Relevanz, die den Schlüssel zum Verständnis der Schweiz von heute liefert. Einer Schweiz, die in den wichtigsten Fragen gespalten ist. Der tiefe Graben, der sich durch unser Land zieht, wäre ohne den Niedergang des Freisinns nicht denkbar. Zum ersten Mal wird diese entscheidende Entwicklung in der Schweizer Innenpolitik vertieft dargestellt.


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Vernissage am 7. Mai im Kaufleuten, Zürich. Infos & Tickets

Podium mit Philipp Müller (Parteipräsident FDP), Michael Hermann (Politikwissenschaftler), Anita Fetz (Ständerätin BS, SP) und Markus Somm (Chefredaktor Basler Zeitung). Moderation: Res Strehle (Chefredaktor Tages-Anzeiger).

Timeline

Die Autoren

Alan Cassidy, 1983, studierte Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Er arbeitete als Reporter im Rechercheteam der Basler Zeitung, ab 2011 im Bundeshaus, heute für die Schweiz am Sonntag als Korrespondent im Bundeshaus.

Philipp Loser, 1980, studierte Geschichte und Philosophie an der Universität Basel. Er arbeitete bei der Volksstimme in Sissach, bei der Basler Zeitung im Stadtressort sowie ab 2009 im Bundeshaus. Er gehörte 2011 zum Gründungsteam der TagesWoche, wo er zwei Jahre im Bundeshaus arbeitete. Seit März 2014 ist er Inlandredaktor beim Tages-Anzeiger.

Kontakt: info@fallfdp.ch

Bild: Hans-Jörg Walter