Auf dem Weg nach rechts

 

Auszug aus Kapitel 8

Das Trauermodell der bekannten Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat fünf Phasen. Phase 1: Ein Patient erhält sein Todesurteil und will es nicht wahrhaben. Phase 2: Er wird zornig. Phase 3: Er will sein Los verhandeln. Phase 4: Er fällt in Depressionen und dann, endlich, Phase 5: Er kann loslassen und akzeptiert sein Schicksal. Der Freisinn ist nicht tot, noch lange nicht, und doch weisen der Niedergang der FDP und das Trauermodell der Psychiaterin verblüffende Parallelen auf.

Die ersten Zeichen des eigenen Niedergangs und des Aufstiegs der SVP nach dem EWR-Nein von 1992 negierte die Partei. Als die SVP in den 1990er-Jahren stärker und stärker wurde, verlegte sich die FDP auf eine Stil-Diskussion (und kaschierte dabei ihren Ärger über den eigenen Misserfolg nur schwach). Gegen Ende der 1990er- und zu Beginn der 2000er-Jahre versuchte die Parteiführung alles, um den Spiess noch einmal umzudrehen, sie pröbelte mit Reformen und hastigen Neuanfängen (das Kapitel 7 handelt davon). Alles Verhandeln blieb nutzlos. Und so trat die FDP in die beiden letzten Trauerphasen ein. Die Depression – und die Akzeptanz. Fulvio Pelli, Präsident des Freisinns von 2005 bis 2012, ist die Verkörperung dieser Phasen. Er hat die Scherben der Vergangenheit zusammengekehrt und die FDP auf jenen Weg gebracht, auf dem sie heute noch unterwegs ist. Auf dem Weg nach rechts – im Schatten der SVP.

Pelli hadert nicht damit, auch im Rückblick nicht. Wir treffen ihn in einem leicht angejahrten Tea-Room am Zürichberg. Der Tessiner Anwalt hat Familie hier, eben ist er erneut Grossvater geworden. Er trägt eine Zeitung unter dem Arm (es ist nicht die NZZ), ist leger gekleidet und scheint für einmal so entspannt und unaufgeregt, wie er sich während seiner aktiven Zeit als Präsident immer gab (es aber selten war). «Im Moment geht es der Partei nicht schlecht», sagt Pelli und meint das ernst. Das hat mit seinen Erwartungen an den Freisinn zu tun, die er weit nach unten geschraubt hat. «Man muss ehrlich sein», sagt Pelli. «Früher war die FDP eine Partei mit einem Wählerpotenzial von 20 bis 25 Prozent, heute sind es noch 15 bis 20 Prozent. Eine liberale Partei über 20 Prozent ist undenkbar geworden. Heute werden liberale Werte als selbstverständlich angenommen, auch wenn sie ausserhalb der FDP systematisch ignoriert werden.»

Diese Erkenntnis flächendeckend in der Partei zu installieren, ist das grösste Verdienst von Pelli. Als er die Partei 2005 übernahm, hatte sie einige Niederlagen hinter sich. «Die Partei war nicht geeint. Ich sah es als meine wichtigste Aufgabe an, eine Fraktion zu haben, die auch wirklich als Fraktion arbeitet und nicht mehr als Gruppe von Einzelkämpfern. Wir mussten gegenüber den Wählern wieder ein einheitliches Bild abgeben.» Die Zeit der Flügelkämpfe gehörte unter dem Vorsitz Pellis (der von Fraktionschefin Gabi Huber tatkräftig unterstützt wurde) der Vergangenheit an: Weil es keine Flügel mehr gab. In früheren Zeiten seien verschiedene Flügel in einer Partei ein Vorteil gewesen, sagt der ehemalige Präsident. «Aber in einer Gesellschaft, die verstärkt von den Medien dominiert wird, ist eine solche Breite ein Nachteil. Eine Partei kann heute schlicht nicht mehr mit mehreren Profilen auftreten. Die Medien verlangen eine klare Linie. Daran muss man sich anpassen.» Pelli passte sich an.

Um den Sinkflug zu bremsen, verordnete er seiner Partei einen neuen Kurs. «Wir haben die FDP klar rechts der Mitte positioniert, und in dieser Position haben sich die meisten Freisinnigen erkannt. Ich hasse die Mitte, das ist keine eigenständige Position, sondern eine fremdbestimmte durch die Pole auf beiden Seiten.» Nicht alle in der FDP waren allerdings mit dem neuen Kurs einverstanden. «Einige wollten das nicht», sagt Pelli. «Wir waren streng, aber das war nötig. Ohne diese Strenge hätte sich der Sinkflug noch beschleunigt.»

Kurze Zeit nach Pellis Amtsantritt zeigte die harte Linie Resultate. Trotz der Wahlniederlage von 2007, die in der Abwahl von Christoph Blocher gipfelte (wovon später noch die Rede sein wird), agierte die FDP im Bundeshaus so erfolgreich wie nie seit Anbeginn des eigenen Abstiegs. Im ersten Jahr der Legislatur gewann die FDP über 90 Prozent der Abstimmungen – und war damit zum ersten Mal erfolgreicher als die CVP. «Die FDP hat in den vergangenen Jahren an den Wahlurnen zwar viel Federn lassen müssen», analysierte Politgeograf Michael Hermann im Oktober 2008 in der NZZ am Sonntag, «unter der Bundeshauskuppel hat sie ihre Machtposition jedoch still und leise ausgebaut.»

Wie hat der Niedergang des Freisinns das Land verändert? Warum ist die Schweiz in entscheidenden Fragen gespalten? Wie konnte die SVP so dominant werden?

Die Geschichte, die dieses Buch erzählt, ist eine dramatische. Es ist die Geschichte von falschen Entscheidungen, mächtigen Gegnern und Wendungen, die sich nicht kontrollieren ließen. Und es ist eine Geschichte von aktueller Relevanz, die den Schlüssel zum Verständnis der Schweiz von heute liefert. Einer Schweiz, die in den wichtigsten Fragen gespalten ist. Der tiefe Graben, der sich durch unser Land zieht, wäre ohne den Niedergang des Freisinns nicht denkbar. Zum ersten Mal wird diese entscheidende Entwicklung in der Schweizer Innenpolitik vertieft dargestellt.


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Vernissage am 7. Mai im Kaufleuten, Zürich. Infos & Tickets

Podium mit Philipp Müller (Parteipräsident FDP), Michael Hermann (Politikwissenschaftler), Anita Fetz (Ständerätin BS, SP) und Markus Somm (Chefredaktor Basler Zeitung). Moderation: Res Strehle (Chefredaktor Tages-Anzeiger).

Timeline

Die Autoren

Alan Cassidy, 1983, studierte Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Er arbeitete als Reporter im Rechercheteam der Basler Zeitung, ab 2011 im Bundeshaus, heute für die Schweiz am Sonntag als Korrespondent im Bundeshaus.

Philipp Loser, 1980, studierte Geschichte und Philosophie an der Universität Basel. Er arbeitete bei der Volksstimme in Sissach, bei der Basler Zeitung im Stadtressort sowie ab 2009 im Bundeshaus. Er gehörte 2011 zum Gründungsteam der TagesWoche, wo er zwei Jahre im Bundeshaus arbeitete. Seit März 2014 ist er Inlandredaktor beim Tages-Anzeiger.

Kontakt: info@fallfdp.ch

Bild: Hans-Jörg Walter