Pascal Couchepin: «Filz, Filz! Wer war denn tatsächlich von der FDP dabei?»

Als ob er nie weggewesen wäre: Pascal Couchepin telefoniert im April 2014 vor dem Hotel Schweizerhof in Bern und gestikuliert dabei so ausladend wie damals. «Mais non!», hört man es von Weitem. Couchepin war einer der markantesten Bundesräte der jüngeren Vergangenheit – sein ewiger Streit mit Christoph Blocher ist legendär. Zum Zustand seiner Partei, der FDP, hat er wenig Erfreuliches zu berichten. Ein einziges, lautes: «Mais non!»

 

Sie wurden 1979 in den Nationalrat gewählt. In welchem Zustand war damals die FDP?

Pascal Couchepin: Das war das letzte Mal, dass die FDP zulegte in einer Nationalratswahl – dank der Kampagne mit dem Slogan «Weniger Staat, mehr Freiheit». Ich fand den Slogan damals gut, aber ich war dann enttäuscht, dass wir keine griffigen und klugen Massnahmen ergriffen, die dazu passten.

Der Slogan wurde zu wenig konsequent umgesetzt?

Ja. Der Druck, den Slogan mutig und klug umzusetzen, war nicht gross genug. Es herrschte lange Hochkonjunktur. Mir war aber immer auch klar, dass der Slogan gefährlich war, weil er uns so ausgelegt werden konnte, dass wir systematisch gegen den Staat seien.

Was dann auch passierte.

Das waren wir aber nicht, das ist falsch! Im Wallis, wo die Freisinnigen eine ziemlich staatsfreundliche Haltung haben, habe ich für diesen Slogan gekämpft, und man machte mir nie einen Vorwurf daraus. Weil man wusste, dass ich nicht systematisch gegen den Staat war. Bei anderen Freisinnigen entstand dieser Eindruck vielleicht, und insofern kann man sagen: Wir haben die SVP mit dem Slogan unwillentlich gefüttert. Wir haben damit den Boden bereitet für ihren Anti-Etatismus. Das ist bedauerlich, weil wir den Slogan durchaus selbst mit Inhalten hätten füllen können. Wir waren nicht gegen den Staat, sondern gegen die Tendenz aus den goldenen Jahren der Hochkonjunktur, dem Staat immer neue Aufgaben aufzubürden.

War 1979 eine neoliberale Wende, wie es im Rückblick manchmal heisst?

Nein, das war keine neoliberale Wende. Der Freisinn blieb für lange Zeit sehr heterogen. Es gab in der Fraktion Leute wie der Gewerbeverbandspräsident Otto Fischer, aber gleichzeitig gab es einige freisinnige Staatsangestellte. Und beide Seiten lebten gut miteinander.

Was löste das Ende des Kalten Kriegs beim Freisinn aus?

Nicht nur im Freisinn, sondern überall erhielt die Idee Aufwind, dass es eine neue Weltordnung geben würde. Ich hätte ja selbst nicht geglaubt, dass das Ende des sowjetischen Regimes so friedlich ablaufen könne. Der Zwang zur Einheit gegenüber «den Roten» war plötzlich weg.

War der Wegfall dieses Feindbilds ein Grund dafür, dass der Bürgerblock in den darauffolgenden Jahren auseinanderfiel?

Nein, das würde ich nicht sagen. Der Aufstieg der SVP hatte andere Gründe. Ich erinnere mich gut an das erste Mal, als mir Christoph Blocher wirklich aufgefallen ist: Es war, als er im Nationalrat eine Rede gegen das neue Eherecht hielt, gegen das er das Referendum ergriffen hatte. Seine Rede war stringent und mitreissend, seine Argumente sehr konservativ. Der Auftritt war ein richtiger Genuss für ihn.

Zur grossen Wegmarke wurde die Abstimmung über den EWR, die für den Freisinn in einer schweren Niederlage endete. Wie haben Sie die Stimmung im Westschweizer Freisinn in Erinnerung?

Im welschen Freisinn waren fast ausnahmslos alle für den EWR.

Es gab aber auch Gegner: Georges-André Chevallaz zum Beispiel.

Auch ein Philippe Pidoux war dagegen, aber er führte keine grosse Kampagne. Was Chevallaz betrifft, so hatte man das Gefühl, dass er ein wenig verbittert war. Er hatte den Eindruck, dass sein Sohn, ein Berufsoffizier, wegen seiner politischen Haltung in seiner Karriere von Delamuraz benachteiligt wurde. Zudem gehörte er zu einer Schule, die sagt: Die Schweiz ist auf einem Nein aufgebaut. Ich selbst war vom EWR-Beitritt nicht begeistert, aber ich unterstützte ihn. Einmal erhielt ich deswegen einen Anruf von Jacques Pilet von «L’Hébdo». Er war der Ansicht, dass ein Ja zum EWR einen zukünftigen EU-Beitritt verhindern würde, und er sagte mir: Beziehen Sie Stellung gegen den EWR, und unsere Zeitung wird Sie in Zukunft unterstützen. Ich habe diesen Vorschlag klar abgelehnt – und seither sind meine Beziehungen zu Pilet getrübt.

Die Europafrage leitete das Ende der Hegemonie der FDP im bürgerlichen Lager ein.

Ach, die Hegemonie verlor der Freisinn schon nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Wechsel zum Proporzwahlrecht. Sehen Sie: Diese Partei ist seit 1848 in der Regierung. Das ist ein Wunder, das gibt es so in keinem anderen Land. Die Realität ist wohl: Wie alle Regierungsparteien bezahlt die FDP den Preis für diese Beteiligung. Viele Parteien, nicht nur die FDP, haben heute ihre historische Rolle erfüllt. Beim Freisinn war das die Gründung des Bundesstaats, bei der CVP die Integration der Katholiken, bei der SP der Aufbau eines Sozialstaates.

Seit Jahren hört man von Wirtschaftsführern, dass sie sich heute von der SVP besser vertreten fühlten als vom Freisinn. Warum ist das so?

Die Leute, die das sagen, haben sehr oft keine politische Kultur. Sie sind unfähig, eine kohärente Rede zu halten. Das war früher, etwa zu Zeiten des Zürcher Wirtschaftsfreisinns, noch anders, wenn ich an Leute wie Robert Jeker oder Ulrich Bremi denke. Diese Leute gibt es kaum mehr. Das ist schade für uns, schade für die Wirtschaft und das Land.

Ist das ausschliesslich die Folge der Globalisierung?

Nicht nur. Diese Leute sind einfach nicht mehr bereit, ein Opfer zugunsten des Allgemeinwohls zu leisten. Sie sehen sich nur noch als Interessenvertreter. Die Firmen sind grösser und internationaler geworden, das Interesse der einzelnen Wirtschaftsführer am Land ist zurückgegangen. Die Schweiz ist nur noch ein Hafen für diese globalen Konzerne. Sie haben zu wenig Zeit und wollen die wenige Zeit, die ihnen bleibt, nicht mit der Politik verlieren.

Sie waren Bundesrat während des Swissair-Groundings, das zur Chiffre wurde für die Verfilzung des Freisinns mit der Wirtschaft.

Filz, Filz! Wer war denn tatsächlich von der FDP dabei?

Der Verwaltungsrat der Swissair war ein «Who ist Who» des Zürcher Freisinns.

Der Verwaltungsrat war nur eine Art von Ehrenclub. Und dieser Club hat die Swissair über Jahrzehnte hinweg sehr erfolgreich geführt, das darf man nicht vergessen. Die Katastrophe kam dann schnell. Ich selber wurde übrigens von der Diskussion über die Swissair im Bundesrat ausgeschlossen, weil ich einige Dinge sagte, die nicht gut ankamen. Obwohl ich Wirtschaftsminister war, wurde ich ausgeschlossen. Erst als die Katastrophe geschah, wurde ich zurückgeholt.

Tut man der FDP Unrecht, wenn man die Partei immer in die Nähe von solchen Katastrophen rückt?

Ja. Man vergisst dabei etwa die Rolle von Christoph Blocher. Von dieser spricht niemand.

Was bedeutete seine Wahl in den Bundesrat?

Man wollte ihn integrieren, aber das war nicht möglich. Er ist eine starke Persönlichkeit, sehr begabt, aber er lebt nach dem Führerprinzip. Er integriert nicht, er führt.

Zurück zur FDP: Wie hat sich die Partei in den letzten 35 Jahren entwickelt?

Die Partei hat Wähleranteile verloren, wie die SP und die CVP auch. Man hätte das teilweise vermeiden können. Wenn man in der Diskussion härter gewesen wäre. Aber das Hauptproblem war die intellektuelle Schwäche in der Partei. Früher hatte man Intellektuelle und Professoren, die nicht populär und zahlreich waren, aber sie bewegten etwas. Heute regiert man unter dem Diktat der Umfragen. Ich war nie besonders populär in den Umfragen. Ich wurde laut Umfragen nur von 30 Prozent der Leute unterstützt, aber 80 Prozent davon wussten nicht, in welchem Departement ich arbeitete. Nach dem Rücktritt reagieren plötzlich alle positiv. Ist das heuchlerisch? Ich denke nicht. Die Menschen respektieren Politiker, die eine Meinung haben.

Warum fehlen die Intellektuellen im Freisinn?

Es ist schwierig geworden, einer Partei beizutreten. Es ist gefährlich für die Intellektuellen, weil sie schnell stigmatisiert werden und für alles verantwortlich gemacht werden, was in einer Partei falsch läuft.

Hat das auch mit dem Selbstverständnis der Partei zu tun?

Ja. Als ich Gemeinderat von Martigny war, musste ich für einen neuen Sportplatz einer alten Frau ein Grundstück abkaufen. Ich war naiv, beharrte auf zehn Franken für den Quadratmeter, obwohl das Gelände heute 150 Franken wert wäre. Die Frau wollte nur einen Franken mehr, aber ich blieb hart. Sie gab es schliesslich doch – sie tat es für die Stadt. Meine Mutter, eine Freisinnige, hat niemals gegen die Stadt oder die Verwaltung einen Rekurs eingelegt – das tut man nicht, sagte sie. Ein Vetter von mir, ebenfalls freisinnig, hat sein Leben lang immer so abgestimmt, wie es der Bundesrat vorgab. Weil er den Bundesrat unterstützen wollte! Diese Leute verschwinden.

Und das trifft den Freisinn besonders hart.

Leider ja. Die FDP vertritt kein religiöse Interessen wie die CVP oder Klasseninteressen wie die SP. Sie setzt sich für das Allgemeinwohl ein. Es verlangt einen gewissen Stolz, sich dafür einzusetzen und sich zu sagen: Wir bauen einen Staat, wir bauen eine Gesellschaft. Dieses Gefühl ist heute teilweise vorbei. Ich stelle auch allgemein eine gewisse Debattenferne fest. Den meisten Leuten fehlen die intellektuellen Werkzeuge dazu, was nicht heisst, dass sie dumm wären. Aber sie sind es nicht mehr gewohnt – und halten die Auseinandersetzung mit politischen Themen für einen Zeitverlust.

Wie hat der Niedergang des Freisinns das Land verändert? Warum ist die Schweiz in entscheidenden Fragen gespalten? Wie konnte die SVP so dominant werden?

Die Geschichte, die dieses Buch erzählt, ist eine dramatische. Es ist die Geschichte von falschen Entscheidungen, mächtigen Gegnern und Wendungen, die sich nicht kontrollieren ließen. Und es ist eine Geschichte von aktueller Relevanz, die den Schlüssel zum Verständnis der Schweiz von heute liefert. Einer Schweiz, die in den wichtigsten Fragen gespalten ist. Der tiefe Graben, der sich durch unser Land zieht, wäre ohne den Niedergang des Freisinns nicht denkbar. Zum ersten Mal wird diese entscheidende Entwicklung in der Schweizer Innenpolitik vertieft dargestellt.


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Vernissage am 7. Mai im Kaufleuten, Zürich. Infos & Tickets

Podium mit Philipp Müller (Parteipräsident FDP), Michael Hermann (Politikwissenschaftler), Anita Fetz (Ständerätin BS, SP) und Markus Somm (Chefredaktor Basler Zeitung). Moderation: Res Strehle (Chefredaktor Tages-Anzeiger).

Timeline

Die Autoren

Alan Cassidy, 1983, studierte Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Er arbeitete als Reporter im Rechercheteam der Basler Zeitung, ab 2011 im Bundeshaus, heute für die Schweiz am Sonntag als Korrespondent im Bundeshaus.

Philipp Loser, 1980, studierte Geschichte und Philosophie an der Universität Basel. Er arbeitete bei der Volksstimme in Sissach, bei der Basler Zeitung im Stadtressort sowie ab 2009 im Bundeshaus. Er gehörte 2011 zum Gründungsteam der TagesWoche, wo er zwei Jahre im Bundeshaus arbeitete. Seit März 2014 ist er Inlandredaktor beim Tages-Anzeiger.

Kontakt: info@fallfdp.ch

Bild: Hans-Jörg Walter